Die Hölle von unten

13.07.2010 // 01:16 // Sonstiges

Wenn man über den Weltuntergang redet, dann erwartet man ihn meist von oben. Die Lieblingsszenarien der letzten Jahrzehnte sahen vor, dass die Menschheit entweder durch Kernwaffen (von oben), durch Asteroiden (von oben), durch Klimakatastrophe (von, irgendwie, oben), durch Ausserirdische (von oben) oder aber durch Gott ausgerottet wird. Im letzten Fall kommt die Bedrohung zwar womöglich nicht direkt von oben, aber wir nehmen mal an, dass die Erbauer gotischer Kathedralen wussten, was sie taten. Daher ist es so erfrischend, dass wir in den letzten Wochen endlich eine Wende in der Apokalypsenprognose erfahren. Das zur Zeit am meisten gemochte Szenario zum Weltuntergang ist die Bedrohung aus dem Erdinnern. Das ist zunächst mal erfreulich.


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Nur kurz zur Erinnerung, wie man sich das Weltende nach aktuellem Stand vorzustellen hat. Die endzeitfreundlichen Menschen von BP haben im Golf von Mexiko nicht nur einen Ölvorrat angebohrt, sondern ausserdem eine Methanblase. Diese Blase, vielleicht 30km im Durchmesser, steht unter enormem Druck von 100.000 PSI, was in etwa dem 7000fachen des Luftdruckes unter Normalbedingungen entspricht. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der Meeresboden bald nachgeben und das Gas explosionsartig entweichen wird. Die nächsten Schritte sind komplex, aber das Entscheidende sind wohl ein bis zwei Supertsunamis, wobei zumindest der erste von einer Wolke aus Methan begleitet wird, was sich besser anhört als es ist. Ausserdem wird wohl das Meer rings um den Golf vollständig absterben, weil das Methan den Sauerstoff verdrängt oderso. All das ist total gut untersucht und auf zahlreichen schlecht designten Webseiten so gut dokumentiert, dass es sich kaum noch lohnt, die Einzelheiten nachzuprüfen. Sicher ist es zu 99% Humbug, aber hey, und deshalb spielt es auch keine Rolle mehr, ob man statt der Methanblase einen Dampfvulkan nimmt, um die Supertsunamis zu erzeugen. Das soll hier alles nicht weiter stören.

Ursachen sind sekundär, weil man es hinterher sowieso nicht mehr so genau wissen will. Wichtig ist allein, wie man die Apokalypse überleben kann. Klar ist wohl, dass sie die gesamten Küstenregionen am Golf von Mexiko radikal von Lebewesen befreien werden. Bis Georgia, so meint jemand, könnte die Bahn der Zerstörung reichen, das ist ein paar 100 km vom Golf entfernt. Kaum jemand traut sich, die Ausmasse des Tsunamis zu schätzen, aber wenn jemand sich traut, dann kommt er auf maximal 100 Meter Höhe und Geschwindigkeiten von vielleicht 500 km/s, also so schnell wie ein Düsenflugzeug. Einmal in Bewegung gesetzt, hält so ein Tsunami erstmal nicht wieder an, und es wäre zu erwarten, dass zumindest Westeuropa von einer abgeschwächten Version der Welle getroffen wird, und zwar nur wenige Stunden später. Es bleiben uns also nach der Explosion vielleicht 5, vielleicht 10 Stunden Zeit, um die Küstengegenden zu verlassen und uns auf Berge zurückzuziehen. Für Holländer wird es knapp, aber ansonsten dürfte es machbar sein. Mehr als ein paar 100 Millionen Tote sollte der erste Schock eigentlich nicht verursachen.


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Wie bei jedem vernünftigen Weltuntergang werden die wahren Probleme jedoch erst nach der grossen Katastrophe eintreten. Die um die Welt ziehenden Methanwolken werden sich an vielen Stellen entzünden, was zu ärgerlichen Bränden führen wird. Die Infrastruktur der Küstenregionen am Atlantik wird langfristig nicht mehr existieren, einfach weil die Küstenregionen nicht mehr existieren werden, was Probleme mit dem Nachschub an Lebensmitteln nach sich ziehen wird, mit den üblichen lästigen Folgen (sozialer Unfrieden, Verrohung, Totschlag). Das grösste Problem jedoch dürfte die Trinkwasserversorgung sein. Grossflächig wird das Grundwasser vergiftet sein, meist nicht durch Methan, sondern durch Zerstörung von anderem Zeug, das ungesunde Substanzen enthielt. Regenwasser wird global für einen Weile nicht trinkbar sein. Und überall im Flachland wird Brachwasser stehenbleiben, ideale Brutstätte für Tod und Teufel. Wer in den Bergen eine gute Wasserquelle findet, bleibt besser da und erzählt keinem davon. Den Friedensnobelpreis wird man sowieso nicht mehr gewinnen.

Alles in allem aber handelt es sich bei der Methankatastrophe um einen relativ milden Weltuntergang, auch, weil die Pazifikanlieger vermutlich eher ungeschoren davonkommen werden. Nach ein paar Jahrhunderten werden sich auch Europa und Amerika einigermassen erholt haben, was jetzt nicht nach einem ordentlichen Qualitätsdoomsday klingt. Viele Apokalyptikfreaks werden hinterher bitterlich enttäuscht sein.

Edison Freilich // Dauerhafter Link

Quellenromantik

08.07.2010 // 02:02 // Sonstiges


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Hype war 90er: die Überdrehung der Reaktion auf ein Phänomen. Was zur Zeit gerade anläuft, sollten zukünftige Generationen vielleicht als Flipperhype bezeichnen, eine Hypekugel, die nicht nur über ihr Subjekt hinausschiesst, sondern mit dem Subjekt nichts mehr zu tun hat, sich vollkommen ablöst vom Granulat, das wir Realität nennen, und einmal kreuz und quer durchs Universum schiesst. Heute, um 9PM ET, wird LeBron James eine Stunde lang seine Entscheidung verkünden. Live, ESPN, nationales Fernsehen, alles. 'The Decision' ist im Basketball schon lange auf einer Ebene mit The Shot, mit dem Unterschied, dass es mit Basketball nichts mehr zu tun hat.

Seit zwei Jahren ist der Sommer 2010 als der Sommer von LeBron antizipiert worden, aber das Ausmass der Amplifizierung von Nichts war niemandem wohl so recht klar. Erst hijackt Lebron die NBA-Finals mit einem einstündigen Larry-King-Interview, in dem er genau Nichts sagte, dann hijackt er die Fussball-WM, indem er ein halbes Dutzend Teams vorlädt und sorgsam Nichts nach aussen dringen lässt. Die LeBron-Maschine sprengt alles Neue und Interessante und füllt sie sorgfältig mit qualitativ hochwertigem Nichts. Seit einer Woche dreht der Twitterfeed durch wie sonst nur bei Terroranschlägen, obwohl es absolut Nichts zu sagen gibt.

The Decision, obwohl noch gar nicht geschehen, hat jetzt schon die Verhältnisse gründlich verändert. Nicht nur, dass Lokalreporter in Ohios Kleinstädten auf einmal mehr Macht zukommt als den grossen Netzwerken, weil sie direkt über Twitter die letzten Reste aus dem leeren Nachrichtentopf kratzen, z.B. die Farbe von Lebrons Auto und die Beschaffenheit seiner Hosen, Neuigkeiten, die sich traditionell wenig für einen Aufmacher in den Abendnachrichten eignen, aber in der neuen Welt hyperrelevant sind, weil wir nichts anderes mehr haben. Nicht nur, dass man keinen Satz mehr lesen kann, der nicht mit 'Sources say...' anfängt; die anonyme Quelle ersetzt die Wirklichkeit, alles bleibt möglich, solange es jemanden gibt, der es behauptet, also immer.

Die entscheidende Veränderung nämlich haben wir noch nicht begriffen. In der neuen Welt gibt es keine Medien mehr, sondern nur noch Quellen. Die Medien, also der Mittelsmann zwischen Ereignis und Publikum, müssen scheitern, wenn es zwar kein Ereignis mehr gibt, aber ein Publikum, das alles über Nichts wissen will. Medien werden ersetzt durch Quellen, unendlich viele Quellen, die gleichzeitig das Publikum abgeben, denn wir sind die idealen Quellen für immer neues, brandaktuelles Nichts, dem wir dann eindringlich lauschen können.

Gerade jetzt bellt ein Hund.

Gearoid Seiverth // Dauerhafter Link

Die Triple-Threat-Philosophie

07.06.2010 // 15:01 // Sonstiges


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Kobe Bryant fängt den Ball und stellt sich sofort breitbeinig mit dem Gesicht zum Korb auf. Den Ball hält er mit beiden Händen vor der Brust, wobei die Ellenbogen nach außen zeigen. Der Kopf ist wie eine Waffe nach vorne gebeugt, in Richtung Korb und Verteidiger. Es sieht aus, als wolle eine Mutterkuh ihr Junges, den Ball, vor den gefräßigen Horden schützen. Das Tier ist hochkonzentriert, aggressiv, aber gefasst.

Ab hier geht alles sehr schnell. Bryant zieht den Ball zum Sprungwurf zum Kopf hoch und schießt. Oder er täuscht kurz links an und zieht dann hart rechts am Verteidiger vorbei zum Korb. Oder er zieht ein paar Schritte nach rechts außen und trifft mit dem Pull-Up-Jumper. Das Wesentliche jedoch: Der Verteidiger hat nicht die geringste Ahnung, für welche der drei Optionen sich Bryant entscheiden wird. Die Triple-Threat-Position zerstört die Prognosefähigkeiten des Gegners, sie zwingt ihn zu einem unguten Bingo-Spiel mit dem Schicksal. Die Position führt eine unsichtbare Wand zwischen Bryant und Gegner ein: Nur noch einer der beiden weiß, wie die Zukunft aussieht. Vorhersage ist Macht.

Der uralte Menschheitstraum: die Zukunft vorhersagen zu können. Im Durchschnitt verbringt der Mitteleuropäer jeden Tag knapp siebzehn Stunden mit Fragen, deren Beantwortung Prognosefähigkeiten voraussetzt, das ist mehr, als er mit Körperpflege, Nahrungsaufnahme oder Facebooklesen verschwendet. Wie wird das Getränk schmecken, das ich im Begriff bin zu kaufen? Ist die Rente wirklich sicher? Wie wohl das Wetter heute wird? Bin ich wach genug, um aufstehen zu können? Ist die neue Freundin ein Mann? Passiert heute noch was? Ist auf der A7 wieder Stau? Und wird das neu gekaufte Haus auch nicht gleich zerbröseln? Das Hirn kreist fortwährend um den einzigen, großen Kontinent, den die Menschheit noch nicht erobert hat: die Zukunft. Die Zukunft ist das neue Amerika.


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Gemeint ist hier natürlich nicht die relative Zukunft, also die Zukunft, die schon bald Gegenwart und gleich darauf Vergangenheit sein wird. Es geht um die absolute Zukunft, die Zukunft nach der Gegenwart, die immer Zukunft bleiben wird. Derzeit ist die direkte Nord-Ost-Passage in die absolute Zukunft noch vereist. Das kann sich praktisch stündlich ändern, aber solange wir noch nicht mal wissen, wann es sich ändert, wann die ultimative Zeitumsegelung möglich wird, bleibt vor allem eine Option: Optionen.

Optionen sind die stabilste Währung im Raum-Zeit-Kontinuum. Optionen vergrößern den Bereich des Multiversums, der zugänglich ist. Man fährt zwar nicht direkt nach Amerika bzw. in die Zukunft, aber man steckt Claims ab. Ein Claim von der Größe Wisconsins ist deutlich besser als einer in Handtuchformat. Ziel muss es sein, so wie Kobe Bryant in jedem Moment mindestens drei Optionen zu haben, X, Z und Z – das Leben als Triple Threat. Wer zu jedem Zeitpunkt Option X zugunsten von Option Y aufgeben kann, ist nicht mehr darauf angewiesen, was Option X in der Zukunft bringt. Aber Achtung, wenn man Y auch noch wegwirft, bleibt am Ende nur noch Z übrig, und Z ist, wie wir alle wissen, das Ende.

Damion Wooten // Dauerhafter Link

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