Quellenromantik

08.07.2010 // 02:02 // Sonstiges


Quelle
Hype war 90er: die Überdrehung der Reaktion auf ein Phänomen. Was zur Zeit gerade anläuft, sollten zukünftige Generationen vielleicht als Flipperhype bezeichnen, eine Hypekugel, die nicht nur über ihr Subjekt hinausschiesst, sondern mit dem Subjekt nichts mehr zu tun hat, sich vollkommen ablöst vom Granulat, das wir Realität nennen, und einmal kreuz und quer durchs Universum schiesst. Heute, um 9PM ET, wird LeBron James eine Stunde lang seine Entscheidung verkünden. Live, ESPN, nationales Fernsehen, alles. 'The Decision' ist im Basketball schon lange auf einer Ebene mit The Shot, mit dem Unterschied, dass es mit Basketball nichts mehr zu tun hat.

Seit zwei Jahren ist der Sommer 2010 als der Sommer von LeBron antizipiert worden, aber das Ausmass der Amplifizierung von Nichts war niemandem wohl so recht klar. Erst hijackt Lebron die NBA-Finals mit einem einstündigen Larry-King-Interview, in dem er genau Nichts sagte, dann hijackt er die Fussball-WM, indem er ein halbes Dutzend Teams vorlädt und sorgsam Nichts nach aussen dringen lässt. Die LeBron-Maschine sprengt alles Neue und Interessante und füllt sie sorgfältig mit qualitativ hochwertigem Nichts. Seit einer Woche dreht der Twitterfeed durch wie sonst nur bei Terroranschlägen, obwohl es absolut Nichts zu sagen gibt.

The Decision, obwohl noch gar nicht geschehen, hat jetzt schon die Verhältnisse gründlich verändert. Nicht nur, dass Lokalreporter in Ohios Kleinstädten auf einmal mehr Macht zukommt als den grossen Netzwerken, weil sie direkt über Twitter die letzten Reste aus dem leeren Nachrichtentopf kratzen, z.B. die Farbe von Lebrons Auto und die Beschaffenheit seiner Hosen, Neuigkeiten, die sich traditionell wenig für einen Aufmacher in den Abendnachrichten eignen, aber in der neuen Welt hyperrelevant sind, weil wir nichts anderes mehr haben. Nicht nur, dass man keinen Satz mehr lesen kann, der nicht mit 'Sources say...' anfängt; die anonyme Quelle ersetzt die Wirklichkeit, alles bleibt möglich, solange es jemanden gibt, der es behauptet, also immer.

Die entscheidende Veränderung nämlich haben wir noch nicht begriffen. In der neuen Welt gibt es keine Medien mehr, sondern nur noch Quellen. Die Medien, also der Mittelsmann zwischen Ereignis und Publikum, müssen scheitern, wenn es zwar kein Ereignis mehr gibt, aber ein Publikum, das alles über Nichts wissen will. Medien werden ersetzt durch Quellen, unendlich viele Quellen, die gleichzeitig das Publikum abgeben, denn wir sind die idealen Quellen für immer neues, brandaktuelles Nichts, dem wir dann eindringlich lauschen können.

Gerade jetzt bellt ein Hund.

Gearoid Seiverth // Dauerhafter Link